Bitte schalten Sie ihr Faxgerät an!" schrie Immanuel, ein an Jesus Christus glaubender Jude, ein wenig ungehalten in den Telefonhörer des Faxgerätes. Nachdem das Fax dann endlich durchgerattert war, erzählte er mir von den Menschen, die sozusagen seine Füße küssen wollen: Oh, ein messianischer Jude aus Jerusalem!" In diesem Falle mußte allerdings seine Arbeitsstelle die Telefoneinheiten bezahlen, bis die begeisterte Dame aus Südamerika endlich den Hörer auflegte und ihr Faxgerät einschaltete.
Von vielen Christen werden sie fast angebetet, als seien sie um eine Stufe bessere Christen, makellos, fast etwas Übermenschliches.(1) Von anderen Christen jedoch werden sie verteufelt oder als Abtrünnige angesehen - so hört der Leiter einer christlichen Einrichtung in Jerusalem nicht auf, über sie zu wettern. Von vielen werden sie noch gar nicht wahrgenommen, aber es gibt sie wieder: Juden, die an Jesus Christus als den Messias Israels und Erlöser der Welt glauben und die an ihrer jüdischen Identität fest-halten - sog. messianische Juden", wie sie sich selbst heute nennen.
Zwischen Kirche und Volk Israel stehen sie in einem Spannungsfeld: Von den Juden werden sie oft als Verräter am eigenen Volk angesehen. Von der Kirche werden sie meist mit Mißtrauen beobachtet, und zwar aus folgendem Grund: Vor dem Holocaust setzte die Kirche häufig alles Jüdische mit Gesetzlichkeit gleich und verlangte deshalb von den Judenchristen, ihre jüdische Identität zu verleugnen.(2) Seit dem Holocaust verfällt die Kirche häufig ins gegenteilige Extrem: Die Juden, so sagen heute viele Christen, haben einen anderen Heilsweg als die Christen und brauchen deshalb den Glauben an Jesus nicht.(3) Auch diese Vorstellung macht den messianisch-jüdischen Weg zum Irrweg. Dennoch sehen sich die messianischen Juden beidem zugehörig: Der Kirche Jesu Christi und dem jüdischen Volk.
Wie hat sich dieses ihr Selbstverständnis in der Geschichte entwickelt? Wie begründen die messianischen Juden ihr Selbstverständnis? Wie sieht ihre Beziehung zur Kirche und zum Volk Israel aus? Auf diese Fragen will das Buch eingehen und Positionen von einigen messianischen Juden darstellen. Die Vorlage dieses Buches ist eine von mir zum Magisterabschluß an der Universität Tübingen verfaßte Arbeit. Ich habe versucht, die Sprache so allgemeinverständlich wie möglich zu halten, aber doch den wissenschaftlichen Charakter zu bewahren. Die Intention der Magisterarbeit war, messianische Juden zu Wort kommen zu lassen. Es ist wichtig, daß wir Heidenchristen auf sie und ihre Anliegen hören, denn laut Epheser 2,14-16 sind Juden- und Heidenchristen eins in Jesus Christus, ja sogar ein neuer Mensch". Das bedeutet, daß jede der beiden Parteien unvollständig ist ohne die andere. Da die Magisterarbeit im Jahre 1991 verfaßt wurde und die Entwicklung in Israel manchmal sehr rasant geht, kann es sein, daß einige im Buch erwähnten Tatsachen nicht mehr aktuell sind. Ich habe versucht, die neueste Entwicklung der Situation in Israel bis 1994 zu berücksichtigen.
Die meisten Themenbereiche, die das Selbstverständnis der messianischen Juden betreffen, sind in der Theologie stark umstritten und nicht selten mit Emotionen verbunden - wie z.B. die Themen Judenmission", Gesetz" und Eschatologie". Dennoch muß sich die Kirche und die Theologie immer wieder neu diesen Themen und auch den mit diesen Themen verbundenen Anfragen der messianischen Juden an die heidenchristliche" Theologie stellen.
Die vorliegende Arbeit behandelt auch das Thema Heilsgeschichte", welches in der neueren Zeit sehr stark in der messianisch-jüdischen Bewegung betont wird. Hiermit begebe ich mich auf ein schwieriges Gebiet, denn die eschatologischen Problemstellungen wurden immer sehr verschieden verstanden und befinden sich oft im Bereich der Spekulation. Ich habe dennoch versucht, einen exegetisch sichergestellten Kern herauszukristallisieren und bei den darüber hinausgehenden Fragen die verschiedenen Positionen darzustellen.
Messianische Juden" (engl. Messianic Jews, hebr. jehudim meschichim) - so nennen sich die an Jesus glaubenden Juden erst seit etwa zwanzig Jahren. Davor nannten sie sich hebräische Christen" (engl. Hebrew Christians). Heute wollen die messianischen Juden das Wort Christ" in ihrer Selbstbezeichnung vermeiden, weil das jüdische Volk aufgrund von Erfahrungen in der Vergangenheit große Vorbehalte gegenüber dem Christentum hat. Die christusgläubigen Juden der ersten Jahrhunderte werden in der Theologie als Judenchristen" bezeichnet.
In diesem Buch verwende ich für die an Jesus Christus glaubenden Juden der ersten Jahrhunderte den Ausdruck Judenchristen" und für diejenigen der Neuzeit den Ausdruck messianische Juden", hebräische Christen" oder auch christusgläubige Juden".
Meine Arbeit erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Da es im deutschsprachigen Raum wenig Literatur über die messianischen Juden gibt, habe ich eher versucht, alle wichtigen Themen zu streifen, auf die Gefahr hin, an manchen Stellen nicht genügend in die Tiefe zu gehen. Ich habe einige Beispiele aus der Vergangenheit und Gegenwart herausgegriffen, die ich behandle. Die folgenden Ausführungen sind daher exemplarisch zu verstehen und beanspruchen nicht, das Selbstverständnis der messianischen Juden vollständig wiederzugeben. Die Arbeit versucht, größere Linien in der Entwicklung des Selbstverständnisses der messianischen Juden aufzuzeigen. Ein einheitliches Selbstverständnis existiert nicht. Die Situation der messianischen Juden in den USA ist anders als die der messianischen Juden in Israel. In Israel wiederum sind die messianischen Juden aus den verschiedensten Ländern und Kulturen eingewandert, was ein breites Spektrum an Auffassungen bewirkt. Außerdem lautet ein bekanntes Sprichwort: Wo zwei Juden zusammen sind, dort gibt es drei Meinungen". Dennoch lassen sich gewisse Gemeinsamkeiten in der Suche der messianischen Juden nach ihrer Identität feststellen. Diese Gemeinsamkeiten möchte die vorliegende Arbeit anhand verschiedener Beispiele darstellen. Dabei gehe ich bei der Behandlung der neueren Zeit vor allem auf die Situation der messianischen Juden in Israel ein, einerseits weil sonst der Rahmen dieser Arbeit gesprengt würde, andererseits aber auch, weil mir die Literatur über die Situation in Israel am leichtesten zugänglich war. Ebenfalls aus Gründen mangelnder Literatur gehe ich nur auf die messianischen Juden innerhalb der reformatorischen Tradition ein, nicht jedoch auf die christusgläubigen Juden innerhalb der katholischen Kirche.
Leider gibt es, wie oben erwähnt, noch sehr wenig Literatur über die messianischen Juden. Die Geschichte der messianisch-jüdischen Bewegung ist deshalb schwierig zu rekonstruieren. Die ersten Judenchristen wurden bei den Kirchenvätern erst von der Zeit an erwähnt, als sich eine kirchliche Dogmatik herausgebildet hatte und diese in Abgrenzung zu den Judenchristen verwendet werden konnte. Auch über die heutige Situation gibt es wenig Literatur.(4) Als Gründe wären zu nennen, daß die messianisch-jüdische Bewegung noch sehr in der Phase der Identitätsfindung steckt und vorläufig eher an der Lebenspraxis als an der theologischen Reflexion interessiert ist.
Im deutschsprachigen Raum gibt es vor allem das Buch Messianische Juden von K. Kjaer-Hansen und O. Kvarme(5) und die in neuerer Zeit erschienenen ausgezeichneten Bücher der beiden Pastoren einer messianischen Gemeinde in Jerusalem, Benjamin und Ruben Berger: Gottes Plan mit Israel und Israel und die Kirche. Endzeitliche Perspektiven.(6)
Neben diesen gehe ich vor allem auf zwei in englisch verfaßte messianisch-jüdische Theologien ein: David Sterns Messianic Jewish Manifesto bzw. Restoring the Jewishness of the Gospel(7) und Daniel Justers Jewish Roots.(8) Alle englischsprachigen Zitate habe ich der besseren Lesbarkeit wegen ins Deutsche übersetzt. Daneben verwende ich auch einige Interviews, die ich im Sommer 1991 mit messianischen Juden in Israel geführt habe.
Die Bibelzitate entstammen, falls nicht anders vermerkt, der Lutherbibel in der revidierten Fassung von 1984. Die in meiner Arbeit vorkommenden Abkürzungen, auch die der biblischen Bücher, richten sich nach dem Abkürzungsverzeichnis der TRE.(9) Eckige Klammern [...] kennzeichnen Einfügungen von mir.
Meine Dankbarkeit gilt all den Vielen, die mir Personen, Einrichtungen und Wohnung in Israel vermittelt haben, die korrekturgelesen haben oder für dieses Buch gebetet haben - es sind ihrer zu viele, um sie namentlich zu erwähnen. Mein größter Dank gilt natürlich dem Allerhöchsten, ohne Dessen Hilfe dieses Buch nie zustande gekommen wäre.
Das erste Kapitel des Buches beinhaltet einen raschen Durchgang durch die Geschichte der messianisch-jüdischen Bewegung. Im zweiten Kapitel werden Elemente von messianisch-jüdischen Theologien dargestellt. Gründe für dieselben werden im dritten Kapitel genannt, und nach einer kurzen Zusammenfassung wird im fünften Kapitel das bisher Dargestellte im Lichte der Bibel und der Theologie beurteilt. Im letzten Kapitel werden dann Konsequenzen genannt, die sich aus den Anliegen der messianischen Juden ergeben für die Verkündigung des Evangeliums unter Juden - die sog. Judenmission".
Die messianischen Juden, auch wenn sie von vielen angebetet oder als Ketzer verdammt werden - sind Menschen wie wir. Sie sind jedoch Menschen mit ihrer eigenen Geschichte, ihrer eigenen Suche nach Identität, ihren eigenen Zielen, Wünschen und Hoffnungen. Auf jeden Fall sind es Menschen, die kennenzulernen sich lohnt. Mein Wunsch ist, daß der Leser im Laufe der Lektüre einige von ihnen und ihre Anliegen kennenlernt.
Jerusalem, im Januar 1995 Andreas Hornung
1. 1 Der messianische Jude Ludwig Schneider sagte in einem Interview mit dem Verfasser im Sommer 1994, daß für viele Christen alles, was ein messianischer Jude sagt, unfehlbar sei. Nach der Meinung dieser Christen müsse es der messianische Jude ja wissen, weil er Jude sei.
2. 2 Vgl. D. JUSTER, Jewish Roots, S. 145.
3. 3 Vgl. z.B. P.G. ARING, Christliche Judenmission, S. 264: Israel ist nicht und kann nicht sein das Objekt unserer missionarischen Strategien! Gott ist schon da - Israel ist schon bei Gott" (Herv. P.A.).
4. 4 Noch herauskommen wird die Dissertation Messianic Jews in Eretz-Israel (1925-1988): Trends and Changes in Shaping Self Identity von Gershon NEREL (Hebräische Universität Jerusalem).
5. 5 K. KJAER-HANSEN - O. KVARME, Messianische Juden. Judenchristen in Israel, Erlangen 1979.
6. 6 Echad-Verlag, CH-8634 Hombrechtikon, 1993.
7. 7 Der in Jerusalem lebende messianische Jude David Stern hat in einem aus- führlicheren Buch (Messianic Jewish Manifesto, Jerusalem 1988) und einem kürzeren Buch (Restoring the Jewishness of the Gospel, Jerusalem 1988) das messianisch-jüdische Selbstbewußtsein aus seiner Sicht dargestellt.
8. 8 Daniel JUSTER, Jewish Roots. A Foundation of Biblical Theology, Gaithers- burg 1986. Juster ist Theologe, von 1979-1986 war er Präsident der Union of Messianic Jewish Congregations".
9. 9 S. SCHWERTNER, Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete, Berlin 1974.