Mittelalter:
Etwa ab Mitte d. 13.Jh. gab es Juden in Tübingen.
Erstmals werden sie im Jahre 1335 erwähnt, und zwar in einem Vertrag
zwischen dem Pfalzgrafen Götz und der Stadt Tübingen. Mittelpunkt
der damaligen Judensiedlung war die Judengasse, die noch heute unter diesem
Namen existiert. Das Viertel bildete ein durch Tore abgeschlossenes, ghettoartiges
Wohnviertel mit 30 Häusern. Noch heute befinden sich in den Kellern
der Gebäude Judengasse 1, 3A und 7 Wassergruben, die von rituellen
Bädern herrühren. Das Viertel war günstig gelegen, nahe
der großen Fernverkehrsstraße. Das war wichtig für die
Handel und Gewerbe treibenden Juden. Der Grund, warum den Juden die Zinsgeschäfte
übertragen waren lag darin, daß die mittelalterliche Kirche
Zinsgeschäfte als Sünde ansah und verbot, nur die Juden als "sowieso
für die Ewigkeit verlorenen" durften diese ausüben. Dies wurde
für sie zu einer Quelle steigenden Wohlstandes. Allerdings mußten
sie ihren Schutzherren auch hohe Steuern zahlen.
1348/49 brach eine Pest in Deutschland aus. Ganze Städte
starben dabei aus. Der Judenhaß erreichte zu jener Zeit seinen Höhepunkt:
es wurde behauptetet, die Juden hätten Brunnen, Quellen und Flüsse
vergiftet und dadurch die Pest verursacht. Die Wut des Volkes richtete
sich deshalb mit voller Wucht gegen die Juden, und in mehr als 350 jüd.
Gemeinden wurden die Juden ertränkt, erwürgt, gehängt, lebendig
begraben und auf Scheiterhaufen verbrannt. In Straßburg z.B. wurde
die ganze Judengemeinde, 2000 Menschen, auf einem Scheiterhaufen inmitten
ihres Friedhofs verbrannt. Auch in Tübingen wurden die Juden vertrieben,
evt. auch getötet.
Anfang 15.Jh. kamen wieder Juden nach Tübingen, über
diese Zeit gibt es jedoch keine schriftlichen Quellen. 1456-59 wurden sie
jedoch schon wieder vertrieben, und zwar unter der Anklage zu hoher Zinseinnahmen.
Diese Juden wurden von nicht-württembergischen Lehensträgern
wie z.B. Wankheim aufgenommen.
1471 finden sich wieder Juden in Tübingen, die jedoch
schon 1477 im Gründungsjahr der Tübinger Universität durch
den Gründer der Uni, Graf Eberhard im Bart, vertrieben wurden. Andere
Juden wurden von ihm ins Gefängnis geworfen. Ab 1477 traten die Verordnungen
Eberhards in Kraft, die den Aufenthalt der Juden in Tübingen bzw.
Württemberg nicht mehr zuließen. Die antijüdische Politik
von Graf Eberhard hatte u.a. wirtschaftliche Gründe: die Bevölkerung
klagte über zu hohe Zinsnahmen. Diese waren jedoch wiederum verursacht
durch eine übermäßige Besteuerung der Juden durch
die Landesherren.
Ein Rechtsrat des Grafen Eberhard war Johannes Reuchlin,
der an der Universität Tübingen als Professor Griechisch und
Hebräisch lehrte. Er war der erste christliche Gelehrte des Mittelalters,
der sich dem Studium der hebräischen Sprache widmete. Zusammen mit
vielen jüdischen Gelehrten Europas brachte er das erste hebräisch-lateinische
Wörterbuch heraus. In seinem Gutachten für Kaiser Maximilian
im Jahre 1510 riet er demselben, der Juden Bücher nicht zu verbrennen.
Auch anderswo setzte er sich für die Juden ein. Luther nahm sein Wörterbuch
für die Bibelübersetzung zu Hilfe.
Es gab jedoch in der Geschichte der Tübinger Universität auch
Beispiele von Theologen, die nicht sehr judenfreundlich waren. Ein Mann,
der lange Zeit großen Einfluß auf die Theologie hatte, war
der im 19. Jh. wirkende Ferdinand Christian Baur, der die sog. "Tübinger
Schule" begründete. Er stellte die Hypothese auf, daß die Schriften
des Neuen Testaments in den ersten zwei Jahrhunderten entstanden seien
und in einer mehr als hundertjährigen Entwicklung den scharfen Gegensatz
zwischen Paulus' Lehre und der Urgemeinde bis zur allmählichen Abschwächung
dieses Gegensatzes widerspiegele, bis diese in der frühkatholischen
Kirche zusammenfliessen. Die These, daß die neutestamentlichen Schriften
so spät verfaßt worden seien, wurde bald widerlegt. Der angeblich
scharfe Gegensatz zwischen Paulus und der Urgemeinde, zwischen Judenchristentum
und Heidenchristentum, wurde jedoch beibehalten. Dies brachte Jahrzehntelang
eine einseitige Auslegung der Paulusbriefe und eine negative Sicht des
Judenchristentums wie des Judentums.
Möglicherweise gab es im Mittelalter einen Tübinger
Judenfriedhof. Im Schönbuch, südwestlich von Dettenhausen, ist
eine Flurnamenbezeichnung "Judenkirchhof" zu finden. Bei Grabungen in diesem
Gebiet hat man menschliche Schädel und Gebeine gefunden.
Neben Tübingen gibt es Hinweise auf Juden im Mittelalter
in Calw, Herrenberg, Nagold und Horb.
Neuzeit:
Aus Tübingen waren die Juden durch Eberhard im Bart
vertrieben. Ab 1775 entstand eine größere jüdische Gemeinde
in Wankheim, eine Synagoge wurde dort im Jahre 1845 gebaut. Im Laufe des
19.Jh. erhielten die Juden in Deutschland allmählich die gleichen
Rechte u. Pflichten wie ihre christlichen Mitbürger, ab 1864 waren
sie gleichberechtigt.
Ab 1852 begannen die Wankheimer Juden, nach Tübingen umzusiedeln.
Nach 400jähriger Unterbrechung gab es damit wieder Juden in Tübingen.
1882 wurde dann die Tübinger Synagoge eingeweiht (Gartenstraße
33). Sie wurde wie auch der Wankheimer Friedhof von Juden aus Reutlingen
und verschiedenen anderen Städten und Dörfern benutzt.
Drittes Reich:
1933 gab es in Tübingen 90 Juden. Zwischen 1933 und
1940 zogen zwanzig Juden von Tübingen weg und fünfzig wanderten
aus. Eine Familie sei hier als Beispiel genannt:
Adolph Bernheim, Besitzer einer Mechanischen Bunweberei in der Nähe
von Reutlingen, wohnte seit 1930 in Tübingen. 1938 mußte er
die Fabrik unter schwerem politischen Druck verkaufen, und auch seine Villa
mußte er im selben Jahr verkaufen. Er zog mit seiner Familie zunächst
nach Stuttgart. Nach vielen Schikanen durch die NS-Behörden gelang
ihnen im Juli 1939 die Auswanderung in die USA.
In der Nacht vom 9. zum 10.Nov. 1938 um Mitternacht brachen
SS und SA-Männer in die Tübinger Synagoge ein, plünderten
den Innenraum und warfen Gebetsmäntel und Torarollen in den Neckar.
Gegen 4 Uhr morgens wurde das Gebäude in Brand gesteckt und es brannte
bis auf die Grundmauern nieder. Der Tübinger Kreisleiter der NSDAP
hatte vom Stuttgarter Gauleiter telefonisch den Befehl erhalten, die Synagoge
niederzubrennen. Er heuerte für diese Aufgabe drei einfache Leute
aus der NSDAP an. Die Bevölkerung erfuhr von dieser Aktion erst am
nächsten Morgen. Ausnahme war ein Nachbar, der um 24 Uhr die SS-Männer
die Kultgegenstände fortschleppen sah. Seinem eigenen Bericht zufolge
schien ihn das nicht besonders zu stören. Erst als die Synagoge brannte
und sein eigenes Haus in Gefahr geriet, wollte er die Feuerwehr alarmieren,
wurde jedoch vom Kreisleiter daran gehindert. Die Feuerwehr kam, als die
Synagoge schon eine Viertelstunde niedergebrannt war.
Ab 1938 konnte den Juden aufgrund einer Verordnung Görings
ihre Gehöfte, Häuser, Grundstücke und sonstigen Kapitalvermögen
zwangsenteignet werden. Sämtliche Verkäufe jüdischer Besitztümer
erfolgten mit großen finanziellen Verlusten, die jedoch nach 1945
in Restitutionsverfahren z.T. wieder ersetzt wurden.
An einem Sonntag im selben Jahr 1938 wurde der jüdische
Friedhof in Wankheim geschändigt. Dabei wurden viele Grabsteine niedergerissen
und beschädigt, und noch heute sieht man die Spuren davon.
1939 wurde die jüdischen Gemeinde aufgelöst.
Im Dezember 1941 wurden acht Tübinger Juden nach Riga in ein dortiges
Lager deportiert. Mit einer Ausnahme kamen sie alle um. Im August 1942
wurden fünf Tübinger Juden nach Theresienstadt deportiert, sie
alle kamen um. Nach dieser Deportation gab es in Tübingen keine Juden
mehr. 1968 gab es wieder acht Juden in Tübingen. Die Tübinger
Stadtverwaltung hat wiederholt die ehemaligen Tübinger Juden zu Treffen
in Tübingen eingeladen.
Zwei Dinge fallen bei der Geschichte der Tübinger Juden besonders auf: erstens die Vertreibung der Tübinger Juden durch den Gründer der Universität, was derselben sicherlich keinen Segen einbrachte. Zweitens das Werfen der Torarollen in den Neckar. Mit den Torarollen wurde das Wort Gottes achtlos in den Neckar geworfen. In Tübingen fällt eine geistliche Atmosphäre auf, die dem Wort Gottes seine Wirkung, insbesondere den damit verbundenen Glauben, zu rauben versucht.
Im Jahre 1993 traf sich eine Gruppe von Christen aus Tübingen und Umgebung, um über der Geschichte der Tübinger Juden zu beten und stellvertretend Buße zu tun. Sie beteten auch an dem Platz, wo früher die Synagoge stand, und am Neckar, in den in der Kristallnacht die Torarollen geworfen wurden.
Im Frühjahr 1998 wurden anläßlich einer Überbauungsmaßnahme
des Grundstücks der ehemaligen Tübinger Synagoge Reste der Grundmauern
dieses ehemaligen Gotteshauses gefunden. Dies löste eine sehr emotional
geführte Kontroverse aus. Die Parteien waren der Bauherr, eine Initativgruppe
zur Erhaltung der Synagogenreste und die Stadtverwaltung. Nach wochenlangen
zähen Verhandlungen wurde im Juli schließlich ein Kompromiß
gefunden: Die Grundmauern sollten zum Erhalt für spätere Generationen
eingemauert werden. Außerhalb des Grundstücks wird ein Gedenkplatz
für die ehemalige Synagoge eingerichtet werden.
(verfaßt 1998)
Quellen:
Lilli Zapf: Die Tübinger Juden. Eine Dokumentation. Tübingen
1975.
Helmut Veitshaus: Die Judensiedlungen... im Mittelalter. Stuttgart
1970.
Joachim Hahn: Erinnerungen und Zeugnisse jüdischer Geschichte
in Baden-Württemberg. Stuttgart 1988.
Ein Computerausdruck des Stichworts "Tübingen" vom Computer des
"Bet Hatefuzot" /Diasporamuseum in Tel Aviv vom 14.12.1994.
Ein Rundgang durch Tübingen und die Geschichte seiner Juden (Kulturamt der Stadt Tübingen)